Prähistorische Religionen

Als junge Frau schon weckten prähistorische Steinsetzungen mein größtes Interesse.
Auf vielen Reisen innerhalb Europas, später dann auch nach Australien, ins südliche Afrika, nach China, Tibet, Peru und in die USA, habe ich die Felsbildstellen alter Jägergesellschaften aufgesucht. Unzählige vorgeschichtliche Kultstätten wurden von mir skizziert und fotografiert. Ich habe ihre landschaftlichen und klimatischen Gegebenheiten in Tagebuchaufzeichnungen festgehalten und Artefakte, Keramiken, Stelen oder Idolbilder auf der Suche nach einem allgemeinen Muster miteinander verglichen.

Im Laufe der Jahre ist aus diesen systematischen Reiseaufzeichnungen eine umfang-reiche private Materialsammlung zum Thema "prähistorische, zyklische Religionen" erwachsen, die ich nach einem religionswissenschaftlichen Studium an der Universität Bremen auch auf ein solides wissenschaftliches Fundament stellen konnte. Dabei musste ich zu meiner Überraschung feststellen, dass nach wie vor nur wenig über die schriftlosen Religionen der Frühzeit bekannt ist. Und so sind dann diese "weißen Flecken" auf der Landkarte der religionswissenschaftlichen Forschung zum Hauptthema meiner Forschungen geworden.

Weltbild gesucht

Die Religionswissenschaft beschäftigt sich im Unterschied zur Theologie nicht mit Fragen der eigenen Glaubenslehre, sondern sie erforscht die Weltbilder anderer Religionen. Sie macht die verschiedenen Weltdeutungen sichtbar, die im Laufe der Jahrtausende entstanden sind, und kann zeigen, auf welche Weise sich Menschen zu ihrer Welt, der belebten Natur und den unsichtbaren Geistwesen in Beziehung gesetzt haben.
Weil Menschen in ihrem Verhalten genetisch nicht festgelegt sind, können und müssen sie sich selber Orientierung in ihrer Welt suchen. Sie entwickeln Überlebensstrategien und stellen sich auf unterschiedliche Weise den geheimnisvollen Kräften ihrer Lebenswelt. Ihre emotionale Kreativität und Phantasie befähigt sie, sich ein Bild von der Welt zu machen. Mit Hilfe der Sprache können die Menschen sich über ihre gemachten Erfahrungen und Beobachtungen austauschen. Ihre Welt-Deutungen wurden und werden zunächst in mündlicher Überlieferung von den Ahnen an die Enkel weitergereicht.

Schon die frühen Jägerkulturen haben ein eigenes Erklärungsmodell entwickelt, das in Gestalt von Mythen, magischen Praktiken und Symbolzeichen tradiert wurde. Diese geben Auskunft über das Sosein der Welt, das ebenso die Lebensbedingungen trockener Wüsten, des arktischen Eises, hoher Gebirge oder sanfter Meeresküsten beinhalten kann. So spiegeln die Mythen der Völker die Beziehung der Menschen zu den schöpferischen Kräften ihres Daseins.

Dass die Herausbildung von Mythen ein Jahrtausende langer kommunikativer Prozess war, bei dem immer auch Schamanen als geistige Führer mitwirkten, versteht sich fast von selbst. Die Mythen und Stammesgeschichten vermitteln Kenntnisse aus der "Anderswelt", jener heiligen "Nicht-Wirklichkeit", zu der nur Initiierte Zugang haben, um deren schöpferische Kraft nicht zu gefährden. Mythen, Symbole, Kultbilder oder magische Praktiken verschleiern hier oft mehr als sie offenbaren.

Aufgabe der prähistorischen Religionswissenschaft ist es, aus den "irrealen" Geschichten und Kulthandlungen die unterschiedlichen Botschaften über das Wesen das Daseins zu abstrahieren. Viele Mythen oder Zaubergesänge halten wir heute für so naiv oder unlogisch, dass wir sie kaum ernst nehmen: Hier können Tiere sprechen, Quellen, Bäume oder Winde werden zu handelnden Wesen, Geister transformieren zu Wasser und Luftgestalten, Steine bringen Leben hervor, Menschen verwandeln sich in Felsen oder besitzen eine eigentümliche Zauberkraft.

Tatsächlich wohnt den frühesten, den Mythen zugrunde liegenden Vorstellungen von der Welt eine ungeheure gestalterische Kraft inne. Sie stellen sich als die schöpferische Wahrheit eines Volkes dar, aus der sich im Laufe der Zeit Religionen entwickelten, in denen das "Schöpferische" die Gestalt von Ahnen, Geistwesen, Gottheiten oder unsichtbaren Naturkräften annahm. Im Vorderen Orient beispielsweise kristallisierten sich monotheistische Gesetzes-Religionen heraus, die eine allmächtige Herrscher-Gottheit konzipierten: in einem uranfänglichen Schöpfungsakt wurde die Welt erschaffen und von den Menschen Gehorsam gefordert. Die "Pachamama" in Südamerika dagegen wurde eine kooperative Partnerin der Menschen, während sich in Japan das religiöse Konzept "paralleler Welten" durchsetzte. Dass solche gravierenden Unterschiede zu entsprechend anderen Verhaltensmustern der Menschen untereinander und der Natur gegenüber führten, liegt auf der Hand.

Aufgabe speziell der prähistorischen Religionswissenschaft ist es, diese weltanschaulichen Grundlagen zu erforschen, um mit Hilfe der Mythen und heiligen Gesänge, der Symbolbilder und alten Kultstätten, der Idole und magischen Praktiken das alte Weltbild heraus zu filtern. Das ist oft nicht leicht, weil man immer wieder aus dem Blickwinkel der eigenen vertrauten Erfahrungswelt wertet. Die monotheistischen Religionen haben unser Denken so tief geprägt, dass wir dazu neigen, andere Weltbilder von oben herab zu betrachten, ohne uns mit ihren geistigen Hintergründen auseinander zu setzen.